Altersphopie

(c) 2010 Julia Sevenich

Wir haben Besuch aus dem Ausland. Das Paar ist um die 60. Sie, bisher Autodidakt, studiert bildende Kunst; er ist Gastprofessor und arbeitet an einem spannenden Forschungsprojekt. Sie sind begeisterte Bergsportler und Weinliebhaber. Die beiden stehen mitten im Leben. Ihre Lebensfreude und Vitalität sind ansteckend.
Wir gehen in ein gut bürgerliches Restaurant das für seine modern interpretierte Wiener Küche bekannt ist. Jeder bestellt quer durch die Karte, aber mit der großen Weinauswahl sollte problemlos eine entsprechende Kreszenz gefunden werden. Der Weinkarte ist, passend zum Lokal, hauptsächlich mit österreichischen Spezialitäten bestückt.

Die Bandbreite ist groß. Jede wichtige Rebsorte, jedes Weinbaugebiet, jede Stilrichtung ist mit bekannten Winzernamen sowie mit Newcomern vertreten. Toll, denn die österreichischen Weine sind sehr vielseitige Speisenbegleiter. Doch auf den zweiten Blick stellen wir fest, dass alle Weißweine mit wenigen Ausnahmen aus dem gleichen Jahrgang stammen und zwar dem jüngsten auf dem Markt erhältlichen.

Wie kommt es, dass wir in Österreich unsere Weißweine so jung trinken? Sicher, die frisch abgefüllten Weine haben mit ihrer primären Frucht und Spritzigkeit ihren Reiz, aber die besten Speisenbegleiter sind sie selten. Manche unserer heimischen Weißweine gehören zu den besten und den langlebigste Weinen der Welt. Auf der Karte finden sich einige reifere österreichische Rotweine, aber vielen wären weit nicht so lagerfähig wie die besten spätgelesenen Rieslinge und Grüner Veltliner oder auch Chardonnay aus dem gleichen Jahrgang.

Nach einem kurzen Gespräch mit der Wirtin, eilt ein Grüner Veltliner Ried Lamm 2002 an den Tisch. „Wegen seiner würzigen Fülle und reifen Säurestruktur wird er eine perfekte Begleitung zu den Backhendln sein“ sagt sie. Zu Kalbsleber empfiehlt unsere Gastgeberin einen 2001 Weissburgunder Nussberg – sämig und bekömmlich, immer noch erfrischend und mit raffiniertem, strahlendem Rückgrat. Als eine tolle österreichische Rarität präsentiert sie einen 2004 Rotgipfler zu Tafelspitz mit Schnittlauchsauce und Semmelkren. Ein unvergessliches und sehr österreichisches Erlebnis für meine Gäste aus Übersee!

Über die versteckte Weinschätze erklärt die Wirtin, dass die Gäste immer gierig auf den neusten Jahrgang seien, sie selbst trinke lieber was Reiferes – es bekomme ihr einfach besser. Ich bestärke sie zu mehr Mut, denn offensichtlich ist ihre Weinkenntnis profund. Wir sollten Stolz auf den Charakter und die kulinarische Vielseitigkeit unserer gelagerten heimischen Weißweine sein. Sie zaubern etwas nicht Alltägliches auf den Tisch: nämlich Grazilität und Harmonie, die nur mit einer gewissen Reife zu erlangen sind. Charaktervolle österreichische Weißweine, die in liebevoller Umgebung gereift wurden, strahlen ausgeglichene Lebensfreude und Vitalität aus.
Als der Herr um noch ein Glas Weißburgunder bittet, sagt er: „Es ist nie zu spät eine schöne Jugend zu haben!“

julia7ich

wine writer/educator

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